VdK Pflegestudie

Pflegende Angehörige sind keine unerschöpfliche Ressource

Auf dem Foto sieht man eine Frau, die sitzt und nach vorne sieht. Auf ihren Schultern liegen die Hände einer anderen Person auf.
© VdK-Bayern

VdK-Pflegestudie bringt eine Vielzahl von Baustellen in Bayern ans Licht

Die Situation in der häuslichen Pflege ist gefühlt im besten Fall eine Herausforderung und im schlimmsten Fall dramatisch! Doch wie lässt sich dieses Gefühl mit Zahlen belegen? 

Da die Datenbasis zur häuslichen Pflege in Deutschland bestenfalls als lückenhaft bezeichnet werden kann, hat der Sozialverband VdK 2020 eine Pflegestudie bei der Hochschule Osnabrück in Auftrag gegeben, um eine umfangreichere Datenbasis zu Fragen der häuslichen Pflege zu schaffen. Hieraus wurde die bisher größte Befragung zur Nächstenpflege in Deutschland!

Die Befragung richtete sich an drei Gruppen von Personen: Menschen, die selbst pflegebedürftig sind oder waren; Personen, die einen anderen Menschen pflegen oder gepflegt haben und jene, die noch keine Erfahrung mit der Pflege gemacht haben. 

Die Stichprobe umfasst über 14.000 Teilnehmende aus Bayern, was eine Regionalauswertung für den Freistaat möglich macht. 44 Prozent davon haben angegeben, dass sie eine andere Person pflegen oder gepflegt haben, zehn Prozent gaben an, pflegebedürftig zu sein und 46 Prozent verfügten noch über keine Pflegeerfahrung.

Viele Menschen wollen sich aus Überzeugung um ihre Nächsten kümmern.

79 Prozent und damit weit über Dreiviertel der Befragten in Bayern sahen es als selbstverständlich an, die Pflege zu übernehmen. Das ist ein extrem hoher Anteil. Etwas mehr als ein Viertel gab an, dass die pflegebedürftige Person das vermutlich auch für sie getan hätte. Viele Menschen wollen sich also bewusst und aus Überzeugung um ihre Nächsten kümmern und etwas zurückgeben, das sollte mehr Respekt finden und durch entsprechende Leistungen gewürdigt werden.

Viele Angehörige pflegen ihre Nächsten über mehrere Jahre.

Nächstenpflege ist oft eine langfristige Angelegenheit. Der überwiegende Teil der befragten pflegenden Angehörigen in Bayern, rund 58 Prozent, übt die Tätigkeit schon seit mehr als drei Jahren aus, sieben Prozent sogar schon seit mehr als 20 Jahren! 

Die häusliche Pflege kann somit als umfangreiche Phase im Lebenslauf der Angehörigen gesehen werden, deren Ausgestaltung sich auf das weitere Leben auswirkt. Wenn Menschen über mehrere Jahre nicht ausreichend entlastet und unterstützt werden, sich über viele Jahre große Sorgen machen und sich zu wenig um sich selbst kümmern können, hinterlässt das tiefe Spuren, psychisch, körperlich und finanziell.

Die Pflege eines Angehörigen läuft nicht nebenbei.

Auch der wöchentliche Pflegeaufwand ist häufig sehr hoch. Dieser liegt bei knapp einem Viertel der 6.003 Angehörigen, die zu dieser Frage Angaben gemacht haben, bei 40 Stunden und mehr. Die Pflege eines Nächsten lässt einen häufig kaum abschalten und zur Ruhe kommen. Auch nachts müssen die Pflegenden oft zur Verfügung stehen, insbesondere bei der Pflege von Demenzerkrankten.

Es sind in erster Linie die Angehörigen, die die Pflege zu Hause stemmen.

Das Pflegegeld beziehen in Bayern rund 80 Prozent der Befragten (siehe Abb.1). Daneben gibt es einen bunten Strauß an Unterstützungsleistungen, die die Pflegebedürftigen beanspruchen können und die pflegende Angehörige entlasten sollen. 

Doch diese werden kaum genutzt. 93 Prozent der Befragten haben bisher keinen Zugang zur Tagespflege gefunden. 87 Prozent haben noch keine Kurzzeitpflege genossen. 76 Prozent verwenden die zustehende Verhinderungspflege nicht. 63 Prozent nutzen keinen Pflegedienst. 84 Prozent rufen den Entlastungsbetrag nicht ab. Das sind nochmal vier Prozent mehr als bundesweit, was die Wahrnehmung verstärkt, dass die Hürden beim Entlastungsbetrag im Freistaat, wegen der hohen Zulassungsvoraussetzungen besonders hoch sind! Jährlich verfallen in Deutschland Leistungsansprüche von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen im Wert von mindestens zwölf Milliarden Euro. Das müsste nicht sein, wenn es mehr Angebote, weniger Bürokratie und eine bessere Beratung geben würde!

Welche der folgenden Leistungen nimmt die pflegebedürftige Person in Anspruch?

Art der Leistung Anteil in Prozent
Pflegegeld 79,5
ambulanter Pflegedienst 37,0
Verhinderungs- und Ersatztherapie 24,5
Haushaltshilfe 19,7
Entlastungsbetrag 16,4
Kurzzeitpflege 12,6
Die pflegebedürftige Person nimmt keine der genannten Unterstützungsleistungen in Anspruch 8,0
Tagespflege/Nachtpflege 7,4
Betreuungsdienste 6,4
24-Stunden Pflege (osteuropäische Pflege- oder Betreuungskraft/Haushaltshilfe) 5,9

Abbildung 1: Welche der folgenden Leistungen nimmt die pflegebedürftige Person in Anspruch? Quelle: VdK-Pflegestudie, Dritte Regionalauswertung Bayern, Mai 2022, Abbildung 2, Inanspruchnahme von Unterstützungsleistungen durch Angehörige (Mehrfachnennung möglich)

Der Wunsch nach Unterstützung ist groß.

Über 84 Prozent der Angehörigen und über 90 Prozent der Pflegebedürftigen geben an, dass sie sich mehr Unterstützung durch eine Verhinderungs- oder Ersatzpflege wünschen. 79 Prozent der Angehörigen und knapp 64 Prozent der Pflegebedürftigen wünschen sich mehr Unterstützung durch Kurzzeitpflege. 

Bei den Angehörigen ist der Wunsch nach mehr Unterstützung insgesamt ein klein wenig ausgeprägter als bei den pflegebedürftigen Menschen. Dies kann als ein weiterer Hinweis auf die hohe Belastung angesehen werden, der sich Angehörige durch die Pflege ausgesetzt sehen.

Warum bleibt der Wunsch nach Unterstützung so häufig unerfüllt?

Bei den Angehörigen in Bayern ist die mögliche Zuzahlung der Hauptgrund, warum keine weitere Unterstützung in Anspruch genommen wird. Bei allen Formen der Unterstützung gibt mehr als die Hälfte an, sie würden gerne mehr Unterstützung haben, müssten aber selbst zu viel dazu bezahlen. 

Begrenzt wird die Inanspruchnahme von Leistungen auch durch das Angebot. Gerade bei der Kurzzeitpflege (64 Prozent) und der Tages- und Nachtpflege (50 Prozent) gibt es nicht genug freie Kapazitäten. Ein weiterer wichtiger Punkt: Um die 30 Prozent derjenigen, die mehr Verhinderungs- und Kurzzeitpflege wünschen, geben an, dass sie von dem Antragsverfahren und der Dauer des Prozederes abgeschreckt sind. Aus diesem Grund werden Leistungen oft gar nicht beantragt. Auch sind die Strukturen, wer für was zuständig ist, nicht klar und viel zu kompliziert.

Einige Pflegende kennen die Unterstützungsangebote gar nicht!

Insgesamt gaben 9 Prozent aller Angehörigen an überhaupt keine der genannten Unterstützungsleistungen in Anspruch zu nehmen. Sie wurden nach den Gründen dafür gefragt. Hauptsächlich wurde angegeben, dass die Unterstützungsleistungen nicht bekannt sind und die Befragten nicht wissen, welche sie in Anspruch nehmen können. Das spricht nicht gerade für eine ausreichende qualifizierte Pflegeberatung in Bayern.

Was blockiert die Inanspruchnahme von Entlastungen?

Pflege- und Entlastungsleistungen gibt es nicht zum Nulltarif. Da oft Aufzahlungen notwendig werden, verzichten viele darauf. Die Pflegeinfrastruktur ist mangelhaft, häufig findet sich kein Angebot vor Ort und dadurch verfällt der Anspruch. Wegen bürokratischer Hürden verzichten ebenfalls viele Menschen auf Leistungen. Ohne Pflegeberatung bleibt für sie der Weg zu Entlastungen oft versperrt. Sehr deutlich ist, dass die Inanspruchnahme von Unterstützungsleistungen höher ist, wenn eine Beratung in Anspruch genommen wurde. Wird beraten, steigt die Nutzung von Pflegeleistungen um ein Vielfaches, etwa bei der Tagespflege und beim Entlastungsbetrag von 18 auf 82 Prozent (siehe Abb.2).

Unterstützungsleistungen nach in Anspruch genommener Beratung, in Prozent

  Nein Ja
keine der genannten Unterstützungsleistungen (n=509) 52,7 47,3
24-Stunden Pflege (n=347) 19,0 81,0
Betreuungsdienste (n=365) 19,7 80,3
Haushaltshilfe (n=1151) 23,5 76,5
Entlastungsbeitrag (n=972) 17,6 82,4
Kurzzeitpflege (n=738) 21,0 79,0
Verhinderungs- und Ersatzpflege (n=1446) 21,0 79,0
Tagespflege / Nachtpflege (n=435) 18,4 81,6
ambulanter Pflegedienst (n=2137) 24,6 75,4
Pflegegeld (n=4635) 25,2 74,8

Abbildung 2: Unterstützungsleistungen nach in Anspruch genommener Beratung, in Prozent. Quelle: VdK-Pflegestudie, Dritte Regionalauswertung Bayern, Mai 2022, Abbildung 14, Unterstützungsleistungen und Beratung

Wovon hängt die Wahl der Unterstützungsleistung ab?

Das Alter des pflegenden Angehörigen, die Wohnverhältnisse und die Erkrankung des Pflegebedürftigen beeinflussen die Wahl der Unterstützungsleistungen. Die festen Leistungsbeträge richten sich aber nur nach dem Pflegegrad und nehmen auf die Lebensumstände keine Rücksicht. Das Abrufen der Leistungen wird deshalb als willkürlich, starr und bürokratisch wahrgenommen. Das passt nicht zu den individuellen Bedürfnissen.

Pflegende Angehörige sind oft mehrfach belastet.

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass mehr als die Hälfte der Befragten angibt, neben der Pflege durch zusätzliche Schwierigkeiten belastet oder eher belastet zu sein (siehe Abb.3). Mehr als die Hälfte stimmt auch zu oder eher zu, an körperlichen Beschwerden zu leiden. Etwa 60 Prozent geben an, ihre eigene Gesundheit (eher) zu vernachlässigen.

Mehr als einem Drittel macht die eigene finanzielle Situation (eher) Sorgen und sogar mehr als die Hälfe gibt an bzw. eher an, das Gefühl zu haben, den verschiedenen Anforderungen im Alltag nicht gerecht zu werden. Insgesamt zeigen die Antworten zu diesem Aspekt ein differenziertes Bild zu den sehr ausgeprägten Belastungsfaktoren, die auf die häusliche Pflege einwirken und denen Angehörige sich ausgesetzt sehen.

Belastungen von pflegenden Personen

  Ja Eher ja Eher nein Nein
Neben den Pflegeaufgaben bin ich im Alltag durch zusätzliche Schwierigkeiten belastet. 45,2% 32,8% 13,8% 8,2%
Ich leide täglich an körperlichen Beschwerden. 31,4% 28,0% 19,8% 20,7%
Meine finanzielle Situation bereitet mir Sorgen. 14,2% 19,9% 31,2% 34,8%
Ich vernachlässige meine eigene Gesundheit. 24,2% 32,8% 23,8% 19,2%
Ich habe das Gefühl, der Vielfalt an Anforderungen in meinem Alltag nicht gerecht zu werden. 21,4% 35,6% 26,0% 17,0%

Abbildung 3: Belastungen von pflegenden Personen. Quelle: VdK-Pflegestudie, Zweite Regionalauswertung Bayern, November 2021, Tabelle 47, Allgemeine Belastungen der Lebenssituation von Angehörigen

Angehörige sind nicht nur Ressource, sondern brauchen Unterstützung!

Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen einmal mehr, dass die umfangreiche häusliche Pflege, die durch Angehörige geleistet wird, aus unterschiedlichen Gründen schnell an ihre Grenzen gelangen kann. Sie zeigen zudem, dass Angehörige nicht allein eine Ressource sind, auf die sich verlassen werden kann, sondern selber in erheblichem Maß der Aufmerksamkeit und Unterstützung bedürfen. 

Die Zahl von 20-35 Prozent, die die häusliche Pflege für nur unter Schwierigkeiten oder gar nicht mehr zu bewältigen hält, zeigt deutlich die Fragilität vieler Pflegearrangements. Gelingen in diesen Fällen keine spürbaren Entlastungen, dann besteht die Gefahr, dass die häusliche Pflege nicht aufrechterhalten werden kann.

Die Situation in der häuslichen Pflege ist besorgniserregend.

Zusammenfassend lässt sich sagen, die Situation in der häuslichen Pflege ist ein Stiefkind der Politik und alles andere als beruhigend. Die VdK-Pflegestudie belegt: Es gibt eine Vielzahl von Baustellen in Bayern. Es ist extrem schwierig, Leistungen so zusammenzustellen, dass sie zur individuellen Situation passen. Die Belastung ist in vielen Fällen sehr hoch, auch weil viele Pflegende selbst schon älter sind und Gesundheitsprobleme haben. 

Demenz ist zudem ein erheblicher Stressfaktor für die Pflegenden. Trotz hoher Belastungen werden viele Entlastungsangebote nicht genutzt. Es gibt zu wenig Geld, zu wenig Angebote, zu wenig Beratung und zu viel Bürokratie.