Kategorie VdK-Zeitung Pflege

„Er freut sich am Leben“

Von: Dr. Bettina Schubarth

Freisingerin fängt Momentaufnahmen ihres demenzkranken Vaters ein

Auf dem Foto sieht man einen Mann, der vor einem Graffiti mit verschränkten Armen mit dem Rücken zur Wand lehnt.
© Barbara_Lange

Walter B. war ein Tüftler. Der Ingenieur vertiefte sich in winzige Computerchips genauso wie in millimeterkleine Holzarbeiten. Ein Schlaganfall und eine Demenzerkrankung lassen diese Fähigkeiten jetzt verschwinden. Die Lebensfreude hat das dem fast 83-jährigen Freisinger nicht genommen. Das zeigen Fotografien seiner Tochter.

Barbara Lange sitzt mit ihrer Mutter Christel B. am späten Vormittag zusammen. Ehemann und Vater Walter B. wird in der Tagespflege in Freising versorgt. Mit den Worten „Ich gehe jetzt in die Arbeit“ hat er sich wie jeden Tag von seiner Frau verabschiedet, als er abgeholt wurde – mit sichtlicher Freude. Wie er überhaupt trotz seiner Erkrankung recht zufrieden ist, wie Mutter und Tochter immer wieder erstaunt feststellen.

„Früher war mein Vater sehr leistungsorientiert, sogar streng. Alles musste 150 Prozent perfekt gelingen. Er konnte auch wütend werden, wenn etwas nicht geklappt hat. Heute sagt er: ‚Ist doch gut so‘. Das ist eine echte Persönlichkeitsveränderung“, erzählt Barbara Lange. Seine Ehefrau ergänzt: „Er macht jetzt alles gerne mit. Hauptsache, es ist was los.“

Freiraum ist wichtig

Doch nicht immer sind die Tage einfach. Da fragt sich Christel B., ob Außenstehende, aber auch Bekannte und Freunde eigentlich sehen, was zu Hause los ist. Es geht ihr besser, seit sie offen mit der Erkrankung ihres Mannes umgeht. Und erst recht, seit sie sich Hilfe holt und Freiheiten zugesteht. Die Tagespflege montags bis freitags, gegen die sie sich anfangs gesträubt hat, weil sie nicht in den Verdacht kommen wollte, ihren Mann „abzuschieben“, gibt ihr Freiraum. Ihre Tochter hat sie dazu ermutigt. Sie besucht Angehörigengruppen, trifft Freundinnen, spielt Karten.

Ohne den guten Zusammenhalt der Familie wäre es für Christel B. nicht leicht. Ihr Mann wirkt auf den ersten Blick fit und gesund. Viele können sich nicht vorstellen, dass ihr Alltag oft belastend ist. Doch etwas ärgert sie am meisten: „Es fehlt für Pflegebedürftige an Informationen, an Hilfen. Warum liegt nicht in jeder Arztpraxis ein Heft aus mit allem, was man wissen muss?“ Sie ist hartnäckig, fragt sich durch, was ihrem Mann und ihr von der Kasse zusteht. Andere pflegende Angehörige, die sie kennt, geben Tipps. „Einige lassen sich vom VdK helfen, besonders, wenn es um das Rechtliche geht“, weiß sie. Die Familie ist die wichtigste Stütze. Die Kinder kümmern sich gerne um den Vater. Zurzeit wohnt ein Enkel bei ihnen. Es ist Leben im Haus.
 

Von Graffitis inspiriert

Christel B. braucht ab und zu eine komplette Auszeit, hat sie erkannt. Zu einer Kurzzeitpflege für Walter kann sie sich nicht entschließen: „Das würde ihn sehr verwirren.“ Weil ein Urlaub mit ihrem Mann zunehmend schwierig wird, ist Barbara Lange mit ihren Eltern Ende 2021 nach Teneriffa gereist. „In der Ferienwohnung war er unruhig, deshalb bin ich mit ihm viel spazieren gegangen“, erzählt diese. „Die Graffitis an den Hauswänden haben uns gefallen. Ich wollte einfach ein paar Spaß-Bilder mit ihm machen wie auf Instagram.“

So entstand auch das Lieblingsbild von Barbara Lange, das sie beim Fotowettbewerb des Münchner Vereins Desideria Care einreichte. Heute hält sie stolz ihr Siegerfoto in Händen: Es zeigt den vergnügten Vater im leuchtend orangen Pullover, der scheinbar ein paar Papierflieger auf einer Hauswand starten lässt. „Demenz neu sehen“ lautete der Titel des Wettbewerbs. Die Jury war von der „Leichtigkeit und Fröhlichkeit“ des Fotos berührt.

„Mir gefällt an diesem Bild das Augenzwinkern, der Humor. Demenz heißt nicht nur Defizit. Mein Vater freut sich am Leben“, sagt die Tochter beim Betrachten des Fotos, auf dem sich der Vater selbst gar nicht mehr erkennt. Die Tochter stört das nicht: „Dieser Moment hat ihm gefallen“, weiß sie.  

Barbara Lange ist nicht nur eine ausgezeichnete Hobby-Fotografin. Das größte Hobby der 55-jährigen Bankkauffrau ist die Textilkunst. Ihre fein gearbeiteten Quilts und Wandbehänge werden sogar in Asien ausgestellt.  

Die „HMS Victory“

Diese Begabung fürs Feine und Kleine teilt sie mit ihrem Vater. Eineinhalb Jahre lang half sie ihm, die „HMS Victory“ fertigzustellen. Das maßstabsgetreue Modell eines britischen Kriegsschiffs, 2,50 Meter lang, 1,80 Meter hoch, entstand in 35 Jahren. Vorlage war ein Buch mit Beschreibungen des stolzen Schiffes. Um die winzigen Einzelteile herstellen zu können, fertigte Walter B. sich sogar eigenes Werkzeug an. Die Inneneinrichtung, die Kanonen, die Takelage, für Walter B. gab es keine Kompromisse. Die Arbeitsteilung zwischen Vater und Tochter änderte sich „Erst erklärte er mir, ich half ihm, reichte Werkzeug, später war es umgekehrt.“ Sie tüftelte lange, bis die geblähten Segel richtig echt aussahen, drehte winzige Seile. Er feilte tagelang an Verbindungsteilen.

Zu seinem 80. Geburtstag war alles fertig. Für Walter B. ist die „Victory“ nicht mehr wichtig. Er betrachtet sie ebenso offen und neugierig wie den Besuch, der das Werk bestaunt. Für die Familie ist das Schiff ein Symbol für das gelungene Leben des Vaters.

Demenz neu sehen

Alle Siegerbilder des Fotowettbewerbs des Vereins Desideria Care sind unter Externer Link:demenzneusehen.de zu sehen.