Kategorie VdK-Zeitung

Tausend vergessene Schicksale

Von: Annette Liebmann

Tausende von Menschen haben in der Münchner Innenstadt an die Schicksale von 1000 Opfern des Nationalsozialismus erinnert. Initiiert wurde das Projekt „Die Rückkehr der Namen“ vom Bayerischen Rundfunk und dem Münchner Kulturreferat.

Auf dem Foto sieht man BR-Moderatorin Caro Matzko (von links) mit VdK-Präsidentin Verena Bentele und VdK-Landesgeschäftsführer Michael Pausder.
BR-Moderatorin Caro Matzko (von links) mit VdK-Präsidentin Verena Bentele und VdK-Landesgeschäftsführer Michael Pausder. © Annette Liebmann

Mit einem Schild informierten die Patinnen und Paten an verschiedenen Orten in München Passantinnen und Passanten über den Lebensweg eines NS-Opfers. Verena Bentele stellte in der Weinstraße in der Fußgängerzone Hedwig Wilhelmi vor. An sie erinnern keine Fotos. Von der promovierten Zoologin, die 1889 in Güstrow geboren wurde, ist nur bekannt, dass sie lebhaft und diskussionsfreudig, ja manchmal sogar rechthaberisch war. 

Sie arbeitete unter anderem am renommierten Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin. 1924 erhielt sie ein Stipendium in den USA. Dort geriet sie in eine Krise. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland kam sie in eine Heil- und Pflegeanstalt bei Rostock. Anschließend zog sie zu ihrer Schwester nach München. 

Als es ihr 1936 immer schlechter ging, wurde sie in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar eingewiesen. Am 3. September 1940 wurde sie im Rahmen der „Aktion T4“ in die Tötungsanstalt Hartheim deportiert und ermordet. Sie war 51 Jahre alt. Im idyllischen Schloss bei Linz wurden von 1940 bis 1944 Massenmorde durch Kohlenmonoxid in einer Gaskammer verübt. Insgesamt mehr als 18 000 Psychiatriepatientinnen und -patienten sowie Menschen mit Behinderung fanden dort den Tod.

Vergessene Opfer

„Menschen mit Behinderung und psychisch belastete Menschen sind Opfer des Nationalsozialismus, an die oft nicht gedacht wird“, sagte Bentele als Rednerin auf der Abschlusskundgebung. Sie wies darauf hin, dass sogenannte Eu­thanasie-Morde meist in aller Heimlichkeit durchgeführt wurden. „Viele Menschen geraten heute in eine Krise“, so Bentele. Der Lebensweg von Wilhelmi zeige, dass eine solche Ausnahmesituation während der NS-Zeit das sichere Todesurteil bedeutet hätte. 

Prominente Paten

Landtagspräsidentin Ilse Aigner hatte die Schirmherrschaft für das Erinnerungsprojekt sowie eine Patenschaft übernommen. Zu den weiteren prominenten Patinnen und Paten zählten unter anderem Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter, der Präsident des FC Bayern, Herbert Hainer, der Antisemitismus-Beauftragte der bayerischen Staatsregierung, Ludwig Spaenle, Ludwig Prinz von Bayern und BR-Moderatorin Caro Matzko. Alle Patinnen und Paten trafen sich am Königsplatz, um von dort aus gemeinsam mit vielen weiteren Demonstrantinnen und Demonstranten zur abschließenden Kundgebung am Odeonsplatz zu ziehen. Laut BR waren es insgesamt rund 5000 Teilnehmende.

„Wir müssen den Menschen immer wieder vor Augen führen, was damals passiert ist“, betonte der Initiator des Projekts, BR-Redaktionsleiter Andreas Bönte, in seiner Rede. Ihn habe immer irritiert, dass man bei den Opfern des Nationalsozialismus nur über Statistiken gesprochen hat. Es sei ihm ein Anliegen gewesen, diese Zahlen wieder zurück zu übersetzen in Einzelschicksale. Mit der BR-Aktion werden aus den anonymen Toten wieder Menschen mit Namen und Gesichtern.

Schirmherrin Aigner hob hervor, wie wichtig die Erinnerungsarbeit ist: „Für viele schienen die hart errungenen Werte Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Frieden, Wohlstand bereits selbstverständlich. Wir dachten auch, dass das Gedenken von Generation zu Generation automatisch weitergeht – wie haben wir uns getäuscht!“ Die Demokratie werde von innen wie von außen angegriffen, warnte sie. Feinde wollten zerstören, was seit 1945 aufgebaut worden ist.

„In einer Zeit, in der die Zeitzeugen immer weniger werden, ist die wehrhafte Demokratie so gefordert wie noch nie in ihrer 75-jährigen Geschichte“, stellte OB Dieter Reiter fest. Projekte wie „Die Rückkehr der Namen“ könne man gar nicht hoch genug schätzen. München als ehemalige „Hauptstadt der NS-Bewegung“ habe heute ein Bekenntnis für lebendige Erinnerungskultur gesetzt. 

Weitere Rednerinnen und Redner waren BR-Intendantin Dr. Katja Wildermuth, Dr. Josef Schuster vom Zentralrat der Juden in Deutschland, Romani Rose vom Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma und die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch. Unter den Ehrengästen waren außerdem die Zeitzeugin Eva Umlauf und Zeitzeuge Ernst Grube.